Manche Gemüsesorten sind nicht wegen sich ändernder Verbraucher-Vorlieben oder gar aufgrund ihrer mäßigen Geschmackseigenschaften in Vergessenheit geraten, sondern weil deren Anbau und Ernte einen erheblichen Aufwand erfordern. Ein Beispiel dafür liefert etwa die von Kennern hochgeschätzte festkochende Kartoffelsorte „Bamberger Hörnla“, der wir bereits einen eigenen Beitrag widmeten. Ihre Ernte ist aufgrund ihrer dünnen, länglichen und oft auch krummen Form maschinell nicht möglich und erfordert daher viel Handarbeit.
Lange Anbautradition des „Bischofskrauts“
Ähnlich verhält es sich auch mit einem Gemüse aus Oberbayern, dem Ismaninger Kraut, einer Weißkrautvariante mit jahrhundertelanger Anbautradition in der nordöstlich von München gelegenen namensgebenden Gemeinde. Bereits um 1500 belieferten die Ismaninger den Freisinger Bischof mit vitaminreichem Kohlgemüse. Urkundlich erwähnt wurde im Jahr 1509, dass der Kirchenfürst den Ismaninger Bauern die Gemeindegründe übereignete. Als Gegenleistung mussten diese jährlich 2500 Krautköpfe an Philipp von Freising liefern, weshalb damals auch die Bezeichnung „Bischofskraut“ aufkam.
„Dees krauteste Kraut wird z’Ismaning baut“
Historisches Sprichwort
Im Laufe der Zeit entstand durch Auslese eine lokale Sorte, das „Ismaninger“. Im Jahr 1898 gründeten ortsansässige Bauern die „Erste Bayerische Krautverwertungsgenossenschaft mbH“ und gewannen zwei Jahre später auf der Pariser Weltausstellung sogar die Goldmedaille für ihr Erzeugnis.

Im Jahr 1938 wurde sogar eine zweite Sauerkrautfabrik eröffnet, die schließlich 1984 geschlossen wurde. Auch wenn beide Betriebe heute nicht mehr existieren, lebt die Anbautradition vor allem wegen der dafür bestens geeigneten Bodenverhältnisse in der Region bis in die heutige Zeit fort, wenn auch nur noch in geringem Umfang.


Besondere Bodenverhältnisse
Weite Bereiche der Ismaninger Flur gehören zum Erdinger Moos. Sie wurden in Frühzeiten zunächst als Weidegründe genutzt bevor Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen wurde, die Flächen trockenzulegen. Um 1850 begann schließlich der kommerzielle Abbau von Torf. Man könnte also annehmen, dass der Untergrund auf dem das Ismaninger Kraut bestens gedeiht und zu seiner beeindruckenden Größe heranwächst, aus torfhaltigen Böden besteht. Doch weit gefehlt, denn die für den Kohlanbau prädestinierten Areale des Gebiets bestehen aus einem anderen Untergrund, nämlich aus Almboden, der im Raum Ismaning nach der letzten Eiszeit entstand. Sein Name leitet sich ab von der lateinischen Bezeichnung terra alba (weiße Erde) und hat mit Almwirtschaft nichts zu tun. Gebildet wird er vom Grundwasser, das bei seinem langen Weg von Süden her durch Kalkschotterlager sauren Kalk aufnimmt und hier an die Oberfläche gelangt, wobei der Kalk beim Kontakt mit der Luft unlöslich wird und sich in reinster Form abscheidet.

Die Almschichten können bis zu mehreren Metern Mächtigkeit aufweisen. Mit dem hohen Kalk- und Feuchtigkeitsgehalt sowie seiner porösen Struktur ist der Alm die ideale Grundlage für den Krautanbau. Die Flächen am östlichen Ortsrand tragen daher auch die Flurbezeichnung „Krautgarten“. Die besonderen geologischen Gegebenheiten sind also der Grund dafür, dass sich der Raum Ismaning zu einer der bedeutendsten Krautanbaugebiete von überregionaler Bedeutung entwickeln konnte, aber auch dafür, dass es für den riesigen Arche-Passagier nur dort geeignete Bedingungen für den Anbau gibt.
Vorzüge der seltenen Spezialität
Das Ismaninger unterscheidet sich von den gängigen Weißkrautsorten durch seine schiere Größe und das Gewicht seiner Köpfe von bis zu zwölf Kilogramm. Es besitzt eine flachrunde Form, einen langen Strunk sowie einen lockeren Kopf.
Geschätzt wird es für seinen mild-süßen, weichen und vergleichsweise intensiveren Geschmack. Es eignet sich hervorragend für Sauerkraut, Krautsalat, Krautwickerl (Kohlrouladen) und „Bairisch Kraut“, der perfekten Beilage etwa zum Schweinsbraten.

Gründe für den Rückgang
Trotz seiner guten Geschmackseigenschaften ist das Ismaninger Kraut zu einer fast vergessenen Rarität geworden. Zu den Gründen gehört vor allem, dass Sauerkraut als wichtigste Vitaminquelle vor allem im Winter längst an Bedeutung verloren hat. In früheren Zeiten stand es, in Fässer gefüllt, noch bei vielen Haushalten beinahe täglich auf dem Speiseplan.
Eine weitere bedeutende Ursache liegt im arbeitsintensiven Anbau. So bedingen die unterschiedlichen Reifezeitpunkte der Pflanzen eine permanente Überprüfung über einen langen Zeitraum von Mitte Oktober bis Mitte November. Auch die Größe der Köpfe bringt es mit sich, dass eine maschinelle Ernte nicht möglich ist.

Als „Starkzehrer“ ist das Ismaninger Kraut wählerisch bei den Düngergaben. Ideal ist dabei Kuhmist auf Strohbasis, der aber in der heutigen Form der Rinderhaltung rar geworden ist.
Lohnend: ein Besuch im Ismaninger Schlossmuseum
Allen, die sich für das Ismaninger Kraut und seine historische Bedeutung für die Anbauregion interessieren, sei der Besuch des Ismaninger Schlossmuseums empfohlen.

Zwar werden in vier Szenerien hauptsächlich Teile des Schlossinterieurs und Kleidung der Zeit ab 1816 gezeigt, als der Stiefsohn Napoleons, Eugène de Beauharnais, und seine Gemahlin Auguste Amalie, Tochter des Bayerischen Königs Max I. Joseph, die Schlossanlage übernahmen. BesucherInnen erfahren jedoch auch viel Wissenswertes über die geologischen Verhältnisse der Region, den Torfabbau, das Sägewerk in der Seidl-Mühle oder eine frühere Papierfabrik. Und anhand von Werkzeugen erhalten sie Einblicke in den bedeutenden Wirtschaftszweig des Kohlanbaus.

Im ersten Stock des Museums befindet sich eine besondere Attraktion in Form eines fast 10 Quadratmeter großen Modells des alten Ismaninger Bahnhofs, der 1990 einem neuen S-Bahnhof weichen musste. Diese beeindruckende und originalgetreue Nachbildung wurde vom Ismaninger Modellbauer Friedrich Braun in 10-jähriger Arbeit geschaffen und zeigt neben Szenen von der früheren „Torfbahn“ auch eine Verladesituation von Krautköpfen.

Beim Krautbauern Kraus
Nur noch wenige - nach unserer Kenntnis drei - Ismaninger Landwirte bauen die regionale Spezialität an, die von der Organisation Slow Food Deutschland im Jahr 2017 als Passagier der „Arche des Geschmacks“ anerkannt wurde. Verkauft wird das Original Ismaninger Kraut dann zwischen Anfang Oktober und Weihnachten ab Hof, danach ist es dort auch als Sauerkraut erhältlich.
Max Kraus jr., Landwirt und zweiter Bürgermeister der Gemeinde, lud uns freundlicherweise Mitte Oktober zu einen Besuch ein, damit wir uns vor Ort selbst ein Bild von den Anbaubedingungen auf den Krautäckern machen konnten. Dabei erfuhren wir, dass anders als zu früheren Zeiten heute die Krautköpfe direkt bei der Ernte auf den Feldern „geputzt“, also von den äußeren Blättern befreit werden und nicht erst auf dem Hof.
Gefragt, ob es denn noch immer genügend Liebhaber und Kunden des „Ismaningers“ gebe, so dass sich der immense Aufwand wenigstens halbwegs lohne, verwies uns Max Kraus auf Stammkunden, die zum Teil von weither anreisen, um sich die Spezialität zu sichern. Besonders Menschen aus Süd- und Südost-Europa kaufen oftmals beträchtliche Mengen des Riesenkohls. Manche vererben ihre Leidenschaft für den Arche-Passagier sogar über mehrere Generationen hinweg.
Der Besuch des Betriebs der Familie Kraus wurde auch deshalb zu einem besonderen Erlebnis, da uns Max Kraus Senior schließlich weitere interessante Informationen – etwa über das Vorziehen der Krautpflanzen im Garten sowie das Erkennen des richtigen Reifestadiums - vermittelte.
Wir nahmen schließlich das frisch geerntete Exemplar, welches auf den Bildern vom Feld zu sehen ist, mit nach Hause, um uns selbst einen Eindruck von der Küchentauglichkeit des Ismaningers zu machen. Und wir können alle Gütemerkmale, die ihm zugeschrieben werden, nur bestätigen.
Übrigens bedurfte es auch in der Küche nicht unerheblicher Kraftanstrengungen, um den im geputzten Zustand immer noch 11,3 kg (!) schweren Kopf zu verarbeiten. Zur Belohnung revanchierte sich das Riesenkraut mit seinem vorzüglichen, milden und leicht süßlichem Geschmack.
Bleibt zu hoffen, dass die Bemühungen des Slow Food Conviviums München, wieder mehr Menschen für dieses feine Gemüse zu begeistern, Früchte tragen. Denn nur dann wird sich der aufwändige Anbau des Ismaninger Krauts für engagierte Landwirte wie Max Kraus auch in Zukunft lohnen.
Text: Peter Grett
Bilder:
Aufmacher: Anett Tobies
Bilder 1-3: Schlossmuseum Ismaning
Bild 4: Anett Tobies; Motiv: Schlossmuseum Ismaning
Bild 5: Slow Food Deutschland/Rudolf Böhler
Bild 6: Anett Tobies
Bild 7: Schlossmuseum Ismaning
Bilder 8-14: Anett Tobies
https://schlossmuseum-ismaning.de/
Lesenswert:
Wer über den Krautanbau hinaus noch mehr über die Historie und die Sehenswürdigkeiten von Ismaning erfahren möchte, erfährt viel Wissenswertes in diesem Beitrag von Michael Seiler, dem Betreiber unseres Partnermediums „to eighty countries“: https://toeightycountries.com/ismaning-ein-prachtvolles-schloss-und-ein-besonderes-kraut
