Das frühe Morgenlicht scheint in warmen Farben, aber etwas milchig, auf den rauschenden Fluss mitsamt seinen kleinen Inseln und offenen Schottenbänken. Weiter hinten im Tal lagern noch die blauen Schatten der ausklingenden Nacht. Darüber erheben sich breite Bergrücken, die noch mit Schneeflecken verziert sind. Der Fluss mit seinem türkisfarben-mehligen Wasser füllt das Tal mit seinem Rauschen. Es riecht frisch nach dem Nass des Flusses, nach Viehdung und mit Tau überzogener Vegetation. Ich atme tief durch, verbinde mich mit diesem friedvollen Ort und bringe meine Kamera am Stativ mit noch klammen Fingern in Position.
Kein gewöhnliches Alpental
Wir befinden uns im Iseltal in Osttirol. Dabei handelt es sich nicht um irgendein Alpental, durch das sich ein Fließgewässer schlängelt, vielmehr ist die Isel ein ganz spezieller Fluss. Und ich bin hier, weil ich eine Gruppe Fotografinnen und Fotografen zu besonderen Orten mit großer Glücksverheißung führen darf. Der Tourismusverband Osttirols hatte nämlich eine „Fotosafari“ am Iseltrail ausgeschrieben. Die nun schon fast legendäre Route führt seit 2020 entlang der Isel - von der Mündung in die Drau bei Lienz bis hoch hinauf zur Quelle in der Wildnis des Nationalparks Hohe Tauern.
Ursprüngliche Gebirgslandschaften als positiver Tourismusfaktor
Doch der Reihe nach, fangen wir von vorne an. Die Tiroler „Exklave“ Osttirol ist umgeben von hohen Gebirgsketten, die die verkehrstechnische Erreichbarkeit aus den bevölkerungsreichen Gebieten Mitteleuropas im Vergleich mit anderen Urlaubsregionen in Österreich, etwa dem benachbarten Nordtirol, stets erschwerten. Folglich fand keine so intensive touristische Erschließung statt, Großskigebiete oder Dörfer, geprägt von uniformen Hoteltempeln, fehlen weitgehend. Auch großtechnische Anlagen wie Wasserkraftwerke, etwa wie in Nordtirol, gibt es hier kaum. Lange Zeit wurde dies als Standortnachteil betrachtet, blickte man angesichts der geringen Erschließung Osttirols sehnsüchtig bis neidisch nach Nord- und Südtirol. Durch die zunehmende touristische Nachfrage nach ursprünglichen und authentischen Urlaubserlebnissen im unmittelbaren Kontakt zur Natur profitiert Osttirol jedoch nun von der vormals als Rückständigkeit empfundenen Situation. Und somit kam es auch zu einem allmählichen Sinneswandel bei der einheimischen Bevölkerung. Da naturschonende, touristische Projekte immer mehr Resonanz bei Besuchern und Touristen finden und somit für ökonomische Wertschöpfung sorgen, bewerten immer mehr Menschen in der Region den vermeintlichen Nachteil einer Nicht-Erschließung inzwischen positiv.

Gerettetes Naturjuwel
Dass die landschaftlichen Schönheiten Osttirols auch heute noch so unversehrt sind, ist aber nicht selbstverständlich, gab es doch in den letzten Jahrzehnten heftige soziale Konflikte zwischen industriellen Nutzungsansprüchen und einem nachhaltigeren Entwicklungspfad.
Im Zentrum der Kontroversen stand die Isel. Der gut 57 Kilometer lange Fluss entspringt am Umbalkees-Gletscher mitten in der alpinen Wildnis der Hohen Tauern und fließt bis zur Mündung in die Drau in Lienz völlig frei, also ohne jemals gestaut oder abgeleitet zu werden. Die Flussdynamik der Isel ist daher von der Quelle bis zur Mündung weitgehend ungestört und naturbelassen. Und das ist ein Unikum in den Alpen.

Die Wasserzufuhr schwankt je nach Temperatur, Tages- und Jahreszeit. In der warmen Jahreszeit schmilzt auch ganz oben das Eis, was für eine erhöhe Schmelzwasserabgabe sorgt. Besonders am Nachmittag. Diese täglich vorkommenden kleinen Überflutungen der Schotterbänke schaffen besondere ökologische Bedingungen. So entstehen Lebensräume, die seltenen und geschützten Arten wie etwa der Deutschen Tamariske ein Überleben ermöglichen. Ohne die periodischen Überflutungen würde sie nämlich von anderen Arten verdrängt. Dies ist an den meisten anderen Gletscherflüssen bereits eingetreten: Die Tamariske war früher eine häufige Art an vielen Alpenflüssen. Heute ist sie sehr rar geworden, weil die meisten Alpenflüsse nicht mehr frei fließen und „leben“ können.

In den 1970-er Jahren wollte der Landes-Energieversorger einen gewaltigen Speichersee zur Stromerzeugung mit einer 220 Meter hohen Staumauer im Kaiser Dorfertal unterhalb des Großglockners errichten. Die Betreiber planten zudem, mehr als 20 Gletscherbäche in Osttirol in großer Höhe einzufassen und in unterirdischen Stollen in das Reservoir zu leiten. Das hätte Osttirol eines großen Teils seiner Wasserpracht beraubt und auch die international berühmten Umbalfälle im oberen Iseltal schwer in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem sollten zwei Laufwasserkraftwerke an der Isel zwischen Matrei und Lienz errichtet werden.
Der Lienzer Biologieprofessor Wolfgang Retter – nomen est omen - und viele Verbündete aus der Bevölkerung zeigten sich mit diesen Plänen jedoch ganz und gar nicht einverstanden. Gemeinsam mit dem „Verein zum Schutz der Erholungslandschaft Osttirol“, dem Alpenverein, Hochschülerschaft der Uni Wien und vieler Naturschutzverbände liefen sie gegen das Großprojekt Sturm. Statt der massiven Eingriffe in die Naturlandschaft forderten die Kraftwerksgegner die Einrichtung eines Nationalparks in der wilden Hochgebirgslandschaft der Hohen Tauern und den Erhalt der Isel, dem einzigen frei fließenden Gletscherfluss der Alpen.
Der Nationalpark wurde wiederum von Teilen der lokalen Politik und von Grundbesitzern vehement abgelehnt. Allerdings erbrachte eine, im Jahr 1987 durchgeführte, Volksbefragung im hauptbetroffenen Ort Kals am Großglockner eine Zwei-Drittel Mehrheit gegen die Kraftwerkspläne. Zwei Jahre später wurden die Bauvorhaben schließlich vom zuständigen Ministererium fallen gelassen.

An der Isel herrschte aber auch weiterhin kein Friede. Für ein „Kraftwerk Obere Isel“ wollten Investoren sie im gesamten Virgental ausleiten. Naturschützer - und später auch die EU Kommission - forderten die Erhaltung des unverbauten Wildflusses. Im Jahr 2018 sorgte die Ausweisung der gesamten Isel als Natura 2000-Europaschutzgebiet dann für das endgültige Aus aller Kraftwerks-Begehrlichkeiten am ursprünglichen Naturjuwel. Durch die Einrichtung des Europaschutzgebietes gilt nämlich nun ein sogenanntes „Verschlechterungsverbot“ für geschützte Lebensräume und Arten. Neue Staudämme oder Wasser-Ausleitungen sind daher nicht mehr möglich. Im Gegenzug zur Natura 2000 Widmung wurden Finanzmittel für die regionale Entwicklung zur Verfügung gestellt.
Für den Tourismus in Osttirol und den Erhalt der wertvollen Naturräume ist die Ausweisung von Nationalpark und Europaschutzgebiet ein großer Glücksfall. Herausragende Naturerlebnisse wie die Katarakte der Isel, vor allem die sehr beliebten Umbalfälle, oder die unzähligen Bergwander-Angebote im und um den Nationalpark sind starke Besucherattraktionen und bilden die Basis für eine nachhaltige touristische Wertschöpfung in den Gemeinden der Region.
Touristische Leitmarke mit Claim „Folge Deinem Fluss“
Nun aber wenden wir uns dem Iseltrail zu. Dieser ist eine durchgehend markierte Wanderroute mit zahlreichen Blickpunkten auf magische Plätze. Mit einer Gesamtlänge von 73,7 Kilometern und insgesamt 2120 Höhenmetern bergauf gliedert sich der Route in individuell wählbare Teilstücke.
Das stärker besiedelte und von der Bundesstraße sowie einer Hochspannungsleitung durchzogene untere Iseltal profitierte vom Nationalpark bzw. von den überwiegend alpinen Tourismus-Angeboten bislang weniger. Daher fand die Idee, entlang der Isel einen Weitwanderweg zu installieren - ich durfte das Projekt mitentwickeln - große Unterstützung durch den Tourismusverband und relevante Entscheidungsträger. Die Idee: Den Iseltrail als neue natur-touristische Leitmarke zu entwickeln. Mit Logo, dem Claim „Folge Deinem Fluss“, Infotafeln zu den landschaftlichen Highlights, Nutzung bestehender Wege und behutsam errichteter neuer Infrastruktur wie Rastplätze mit Trinkwasserbrunnen, Aussichtsplattformen oder neue Steiganlagen.
Das Ziel des Vorhabens war vom Beginn an, Tourismus und Naturschutz als Partner zu vereinen und die Region mit einer neuen Natur-Marke aufzuwerten, zu bewerben und damit die regionale touristische Wertschöpfung zu steigern. Alle baulichen Maßnahmen erfolgen behutsam, um die Natur zu schonen. Mit einer Gesamtlänge von 73,7 Kilometern und insgesamt 2120 Höhenmetern bergauf gliedert sich die durchgehend markierte Wanderroute in individuell wählbare Teilstücke. Und wie sieht die Bilanz aus? Ostirols Tourismusobmann Franz Theurl zeigt sich mehr als zufrieden: „Die Betriebe sagen mir, dass sie einen deutlichen Zuwachs an Nächtigenden auf Grund des Iseltrails verzeichnen. Osttirol hat sich seit Jahren dem Naturerlebnis verschrieben – der Iseltrail zählt inzwischen zu den attraktivsten Angeboten. Nicht nur Gäste, sondern auch Einheimische erfreuen sich am Iseltrail. Wir sind zum Glück eine naturbelassene Region. Das wollen wir bleiben und der Iseltrail ist hierfür unser Juwel.“
Ein Eldorado für Wanderer und Naturfotografen
Zurück zur Fotosafari. Die kleine Gruppe mit Fotografie-Fans aus Bayern und Österreich hat sich in drei Tagen flussaufwärts am Iseltrail vorgearbeitet. Ich durfte einige meiner Lieblingsplätze zeigen, die ich im Zuge der Trail-Entwicklung entdeckt hatte: Gischtende Wasserfälle wie den in einer grünen Schlucht versteckten Daberer Wasserfall, felsdurchsetzte wilde Rauschestrecken bei Virgen, pittoresk mit Flechten und Moosen bewachsene Gletscherfindlinge, moosige Altbäume am Ufer, ein leuchtender Regenbogen im Wasserstaub über einem Glo-Wasserfall oder tosende Wassermassen im „Sturzflug“ über hohe Felsstufen bei den Umbalfällen.
Neben den bekannten Attraktionen wie den Umbalfällen finden sich etliche verwunschene Plätze, die vom Trail aus nicht direkt einsehbar sind. Um sie zu finden, braucht es eine besondere Spürnase. Diese „geheimen“ Orte sind jedoch sehr empfindlich. Weil es dorthin keinen Weg gibt, würden zu viele Besuchende wohl durch Vertritt beträchtlichen Schaden anrichten. Daher müssen diese Orte im Verborgenen bleiben, was aber kein Problem ist, weil sich der Iseltrail ohnedies wie ein „Fließband an Naturschönheiten“ präsentiert. Hier können alle ihre Lieblingsplätze entdecken. Sie benötigen nur offene Sinne und Entdeckungsmut.
Also: Folge Deinem Fluss!
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https://www.tirol.at/aktivitaeten/sport/wandern/wandertouren/iseltrail
www.iseltrail.at
Text und Bilder: Matthias Schickhofer